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  • Was tun bei Schulangst und Schulabsentismus?

    Karl hat Schulangst: Die "Nürnberger Nachrichten" über eine Tabu-Krankheit und Behandlungsmöglichkeiten am Klinikum Nürnberg.

24.10.2025

Unter der Überschrift "Als würde man einfrieren" berichten die "Nürnberger Nachrichten" über einen 17-jährigen Nürnberger, der unter massiver Schulangst leidet. Am Klinikum Nürnberg hilft eine Spezialambulanz Betroffenen wie ihm. Der Artikel zum Nachlesen.

Schwitzige Hände, rasendes Herz, unkontrollierte Atmung. Panik. Karl steht vor der Schule. Und kann nicht hinein. „Es ist ein Gefühl, als würde man einfrieren. Eine absolute Schockstarre. Die Kurve geht rasend schnell hoch und nur langsam wieder runter.“ Das erzählt Karl in einer Sprachnachricht. Er hat sie aufgenommen, um zu beschreiben, wie sich das anfühlt: seine Schulangst.

Karl ist gerade 17 geworden. Seit 2021 kämpft er gegen die Angst an. Kerstin Gardill, seine Mutter, hat sich an unser Medienhaus gewandt und zweifelt immer wieder daran, ob das eine gute Idee war: mit dem heiklen, tabuisierten Thema „Schulabsentismus“ an die Öffentlichkeit zu gehen.

Es ist ihr Sohn Karl, der sagt: „Ja, das ist eine gute Idee. Man kann selbst nichts dafür, ich will ja gar nicht so sein. Es ist eine extreme Überwindung, das weiß ich. Aber es wird nur besser, wenn man es anspricht. Niemand traut sich, darüber zu reden. Aber es ist das einzige, was hilft.“

Betroffenenzahlen sind schwierig zu schätzen

Also reden wir darüber. Für ein direktes Gespräch mit der Redaktion fehlt Karl die Kraft, der Druck der Schule und seine Angststörung sind zu mächtig. Stattdessen erzählen seine Mutter, der Sozialarbeiter, der ihn längere Zeit unterstützt hat, das Staatliche Schulamt Nürnberg und die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Nürnberg. Denn ein Einzelfall ist Karl nicht.

Allerdings ist unklar, wie hoch die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen ist. Eine zentrale Erfassung von Schulfehlzeiten gibt es nicht, sagt die Pressestelle des Kultusministeriums in München. Das liegt am Datenschutz. Denn Schüler sind grundsätzlich nicht verpflichtet, die Art einer Erkrankung mitzuteilen, und Schulen haben kein Recht, darüber Auskunft zu verlangen.

Die Fehlzeiten von Schülern und Schülerinnen liegt bei fünf bis zehn Prozent. Doch dieser Schulabsentismus umfasst alles: klassische Erkrankungen wie Erkältung oder Magen-Darm, Schwänzen, genauso wie psychische Ursachen.

Je länger nicht behandelt wird, desto eher wird es chronisch

„Wir sehen nur: Psychische Ursachen nehmen zu“, sagt Dr. Josef Krämer, Leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Nürnberg, zu der die Schwerpunktambulanz Schulabsentismus gehört. Das bestätigt auch das Staatliche Schulamt Nürnberg. Das Thema ist aus psychiatrischer Sicht besonders relevant, weil die Gefahr einer Chronifizierung groß ist. Das heißt: Je länger eine Schulangst nicht behandelt wird, desto schwerer wird es, sie in den Griff zu kriegen und desto größer ist das Risiko, dass sie weitere psychische Störungen nach sich zieht.

„Angst ist ein sehr starkes Gefühl“, sagt Krämer. „Was tue ich, wenn sie auftritt? Ich weiche aus, will sie vermeiden.“ Doch die Angst verschwindet nicht. Im Gegenteil: Sie wird größer. „Anfangs geht das Kind vielleicht nur einen Tag nicht in die Schule. Irgendwann aber gar nicht mehr.“

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie unterscheidet zwischen „Schule schwänzen“ und „Schule vermeiden“. Zwar steckt auch hinter dem Schwänzen die Frage nach dem „Warum?“. Doch für eine diagnostische Klärung ruht der Fokus zuerst auf der Vermeidung und ihren Ursachen.

Hier wird wiederum unterschieden zwischen einer Schulangst, die etwa durch Leistungs- und Prüfungsdruck oder Mobbing ausgelöst wird, und einer Schulphobie, deren Gründe eher im familiären Kontext zu suchen sind, wenn also etwa eine Trennungsangst auslösend ist.

Viele mögliche Ursachen von Trennungsangst bis zu Mobbing

Karls Schullaufbahn verläuft bis zur 6. Klasse im Gymnasium unauffällig. Pandemie und Pubertät bringen den Jungen aus dem Gleichgewicht, er findet nicht zurück in den Schulalltag. 2021 macht er seine erste Gesprächstherapie, die Schulangst wird diagnostiziert. Er wechselt auf die Realschule, wiederholt die 6. Klasse. In der 7. Klasse kommt die Übelkeit am Morgen. Fehltage häufen sich. Kurz vor Schuljahresende erfährt Karl: Er fällt durch. „Das hat ihn völlig aus der Bahn geworfen“, sagt seine Mutter.

Im September 2023 wechselt Karl an eine private Schule. Ein paar Wochen läuft alles gut. Dann, Ende Oktober, ruft er seine Mutter an. „Ich bin aus der Straßenbahn gestiegen und kann keinen Schritt weiter. Ich schäme mich so, ich kann nicht nach Hause.“ Einen konkreten Anlass gibt es nicht. „Mir wird jetzt noch übel, wenn ich mich daran erinnere“, sagt Kerstin Gardill. Die Mutter sucht ihren Sohn, handelt sofort. Ab Dezember 2023 ist Karl vier Monate lang in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Welche Symptomatik steckt hinter der Schulvermeidung? Eine Depression oder Angststörung? Der perfektionistische Anspruch des Kindes? Oder ein vermindertes Selbstwertgefühl? Schulische Überforderung? Oder Mobbing? Diesen Fragen versuchen Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Josef Krämer und Psychologin Jenny Behling in der Spezialambulanz am Klinikum Nürnberg auf den Grund zu gehen.

Die Antwort ist so vielschichtig und individuell wie die Einflussfaktoren. Das Ziel der Behandlung ist aber für alle jungen Patienten gleich: eine zügige schulische Wiedereingliederung. Die Therapie besteht aus Gruppen- und Einzelgesprächen, die Vernetzung mit der jeweiligen Schule und den Familien ist eng.

Was raten Krämer und Behling Eltern, die sich fragen, ob ihr Kind tatsächlich schon wieder Kopf- oder Bauchschmerzen hat? „Bleiben Sie gesprächsbereit und feinfühlig gegenüber Ihrem Kind“, sagt Jenny Behling. „Körperliche Symptome müssen zuerst auch beim Kinderarzt abgeklärt werden“, sagt Krämer. Wird das Fernbleiben von der Schule auffällig, ist es wichtig, schnell professionelle Hilfe einzubeziehen und das Gespräch mit dem Kind zu suchen, der Lehrkraft, dem Schulpsychologen oder Schulsozialarbeiter. „Schulabsentismus entsteht nicht plötzlich, das ist ein Prozess, der sich über Wochen anbahnt und sich ausprägt“, sagt Jenny Behling.

Schulwegtraining als Teil der Therapie

Zur Therapie gehört auch für Karl ein Schulwegtraining mit Begleitung. Das funktioniert gut. Über das Jugendamt bekommen die Gardills einen Sozialarbeiter zugeteilt. Zuerst ist das der Diakon und Heilpädagoge Hans-Jürgen Kohler, mittlerweile wird Karl von einer anderen Sozialpädagogin begleitet. „Karl ist ein netter Kerl, locker und zurückhaltend. Was ihm guttut, sind positive Unterstützung und Zutrauen.“ Was ihm im Weg steht, sei das Kopfkino, sagt Kohler in einem Telefonat. Im Februar 2025 folgt die zweite Schul-Wiedereingliederung. Die Privatschule zeigt zuerst Geduld und Verständnis. Doch dann fordert sie ein Attest pro Fehltag, obwohl ein Attest mit der Diagnose Angststörung vorliegt. Zur Schulangst kommt die Angst vor einer Kündigung. „Manchmal“, sagt Kerstin Gardill, „fühlt es sich so an, als sollten wir auch noch dafür bestraft werden, dass Karl Schulangst hat.“ Die Situation ist für alle Beteiligten enorm belastend, mittlerweile hat Kerstin Gardill einen Tinnitus entwickelt.

Am meisten aber leidet Karl. Er sagt „Ich kämpfe jeden Tag gegen meine Angst an.“ Jeden Schultag steht er rechtzeitig auf, steigt in die S-Bahn. Jeden Schultag bangt seine Mutter: „Klappt es diesmal, wird Karl in die Schule gehen?“ Inzwischen hat er die 8. Klasse geschafft, bis zum Schluss war die Sorge groß und damit auch der Druck, wie es weitergeht. Die Sommerferien haben der Familie gutgetan. „Tatsächlich stresst uns der bevorstehende Schulstart“, schreibt Kerstin Gardill in einer Mail am 10. September. Karl kommt in die 9. Klasse und will seinen Abschluss machen. „Ich probiere es weiter, ich will nicht aufgeben“, sagt er. „Irgendwann wird es besser.“

Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Sie können zu komplexen Problemen innerhalb der Familie, in Schule, Ausbildungsstätte oder dem sozialen Umfeld führen. Für die Eltern ist die Situation häufig eine Herausforderung. Ein Austausch mit anderen betroffenen Eltern kann hierbei eine wertvolle Unterstützung sein. Deshalb startet der Verein Angehöriger und Freunde psychisch Kranker (ApK) in Mittelfranken ab Herbst eine neue Selbsthilfegruppe für Eltern von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer Angststörung.

Bild: Karl und seine Mutter Kerstin Gardill. Der Jugendliche hat diagnostizierte Schulangst.

Foto: privat/Familie Gardill

Veröffentlicht in: Nürnberger Nachrichten / Nürnberger Zeitung, 20.09.2025

Autorin: Kathrin Walther

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